Karl Marx und „die Geschichte“
Gehen wir über die frühsozialistischen Anfänge und Kontroversen hinaus, dann begegnet uns freilich Karl Marx als der „Übervater“, an dem die Linke sich dann seit der Mitte des 19. Jahrhunderts teils orientieren, teils abarbeiten sollte. Er brachte, höchst folgenreich, in die linke Bewegung die Geschichte ein. Die großen Ideen der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind nach Marx in erster Linie nicht „Werte“, die sich durch eine zeitlose Vernunft begründen lassen; sie sind aber auch nicht für ewig in der „Natur“ des Menschen verankert. Diese Ideen sind vielmehr das Produkt und der Ausdruck der geschichtlichen Entwicklung und gehen aus den inneren Widersprüchen der bestehenden Gesellschaft selbst hervor.
Das von Marx und Engels verfasste „Manifest der kommunistischen Partei“ endet zwar in der Tat mit der Vision der Linken von einer „Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist“. Aber ihr Manifest ist kein Manifest wie bislang üblich. Es klagt nicht die empörenden Ungerechtigkeiten der bestehenden Gesellschaftsordnung an, denen dann die politische Forderung nach einer solchen Assoziation der Freien und Gleichen entgegengesetzt wird. Es ist vielmehr eine möglichst nüchterne Beschreibung der Wirklichkeit und der historischen Entwicklung der kapitalistischen Klassengesellschaft, aus deren inneren Gegensätzen und Kämpfen die klassenlose Gesellschaft „unvermeidlich“, wie es hieß, hervorgehen wird.
Mit dieser historischen Perspektive, so lässt sich rückblickend feststellen, haben Marx und Engels der linken Bewegung vermittelt, dass ihre Forderungen nach einer anderen Gesellschaft nicht nur Werte oder Wahrheiten sind, die vor dem Richterstuhl der Vernunft wohl begründet sind, und für die es sich daher zu kämpfen lohnt, sondern dass ihre Forderungen und Kämpfe auch mit dem Gang der Geschichte übereinstimmen, ja dass das Ziel der Linken, die solidarische Gesellschaft von Freien und Gleichen, integraler Teil der tatsächlichen Geschichte selbst ist. Das heißt: die linke Bewegung kämpft nicht nur für eine „gute Sache“; sie steht auch auf der „richtigen Seite“ der Geschichte; ihre Kämpfe sind daher nicht vergeblich, sondern werden schließlich vom Erfolg gekrönt sein. Und es war zweifellos diese wohl begründete und feste Überzeugung vom Fortschritt der Geschichte, den die linke Bewegung ja selbst verkörperte, die dann auch die nicht-marxistische Linke bis weit ins 20. Jahrhundert prägen und tragen sollte.
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