Das Subjekt des politischen Handelns: „Ich“ oder „Wir“?
Die Kontroverse unter der Linken um Freiheit und Brüderlichkeit hat einen nicht uninteressanten geistesgeschichtlichen Hintergrund. Denn, recht grob gesagt, ist die Vorstellung vom Menschen als einem autonomen und privaten Ich das Fundament einer politischen Philosophie, die in der liberalen, von England ausgehenden Aufklärungstradition stand. Sie ist von Klassikern wie Thomas Hobbes und John Locke geprägt worden, die die Existenz der Gesellschaft in der Tat auf einen gegenseitigen Vertrag gegründet haben, und an die dann auch der Genfer Philosoph Jean-Jacques Rousseau angeknüpft hat.
Den Aufklärern in Frankreich hingegen kam die Vorstellung vom Menschen als einem autonomen Ich als eine merkwürdig verschrobene und reichlich barbarische „Robinsonade“ vor, die nur dem düsteren Norden entstammen konnte. Denn in der französischen Tradition dachte man den Menschen als ein soziales Wesen und ging von vornherein von einem gemeinschaftlichen Wir aus. Wenn daher vom Menschen die Rede war, so war nicht das isolierte und für sich seiende Individuum gemeint, sondern das gemeinschaftliche Gattungswesen. So etwa hatte der Franzose Montesquieu es im Buch „Vom Geist der Gesetze“ als ein Axiom seiner Gesellschaftstheorie formuliert, dass der Mensch von Natur aus die Gemeinschaft mit andren sucht, und hatte sich über Hobbes’ Vorstellung, der Mensch sei von Natur ein rücksichtsloser Einzelkämpfer und dem Menschen ein Wolf, lustig gemacht. Und für Claude Helvetius, einem weiteren Vordenker der Französischen Revolution, war es ausgemacht, dass das Glück als Ziel allen menschlichen Strebens sich nur in der Gemeinschaft mit anderen realisieren lasse.
Wir sehen also: Hinter der Frage, ob Privateigentum oder Gemeineigentum, wie sie unter der Linken von Beginn an umstritten war, stecken zwei unterschiedliche Denktraditionen: das angelsächsische Ich als Grundprinzip und „Baustein“ der Gesellschaft und das französische Wir als Fundament jeglicher Individualisierung.
Festzuhalten ist also, dass in der linken Bewegung unter der Parole der Brüderlichkeit von Beginn an unterschiedliches verstanden wurde – wenngleich beide Vorstellungen sich in der Praxis oft, wie etwa bei Pierre-Joseph Proudhon, überschnitten haben. Einmal galt die Brüderlichkeit als eine moralisch-politische Kategorie, der jedoch allemal das Privateigentum als ein natürliches Recht vorausgesetzt war; das andere Mal galt die Brüderlichkeit als eine natürlich-soziale Kategorie des kooperativen Zusammenwirkens der Menschen, dem rechtlich das gemeinschaftliche Eigentum an den Gütern der Erde entspricht. Wir werden sehen, dass dieser anfängliche Streit unter der Linken zwischen den Jakobinern als Verteidigern des Privateigentums auf der einen Seite und den Sansculotten und Frühsozialisten als Vertretern des Gemeineigentums auf der anderen Seite bis heute nicht verschwunden ist.
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